Mutig nach innen wachsen!

Was wir für die Zukunft des Wohnens in Land und Stadt aus Corona lernen können. Ein nonconform Fachbeitrag.

Nicht erst seit der Corona-Pandemie werden die konzeptionellen Mängel des aktuellen Wohnbaus offensichtlich. Nach wie vor orientiert sich die definierte Raumnutzung an herkömmlichen Mustern des Einfamilien- oder Singlehaushalts. Die sozialen Folgen des Lockdowns werden durch Wohnbau-Konventionen verstärkt: Vereinsamung, Cocooning, Zunahme familiärer Konfliktsituationen, Erosion von Freund- und Nachbarschaften. Ganz zu schweigen von ökologischen und ökonomischen Auswirkungen herkömmlichen Wohnbaus: Bodenverbrauch, fehlende Nachverdichtung, Ausdünnung kommunaler Zentren.

Immer mehr Menschen hinterfragen die hergebrachten Zuschreibungen des Themenfelds „Bauen und Wohnen“ und suchen nach Alternativen. Am Land und in der Stadt erfreuen sich gemeinschaftsorientierte Wohnformen wachsender Beliebtheit, auch weil Bauträger und einzelne Kommunen deren ökologisches und sozioökonomisches Potenzial erkennen. In einem Fachartikel (siehe unten) setzen sich die beiden Experten Roland Gruber und Florian Kluge (beide: nonconform, büro für architektur und partizipative raumentwicklung), mit den Kontexten gemeinschaftlichen Bauens und Wohnens auseinander. Anhand eines ländlichen und eines urbanen Beispiels zeigen sie auf, wie kommunitäre Wohnformen von der Idee über die Planung bis zur Umsetzung und zum laufenden Betrieb erfolgreich organisiert werden können.


Mutig nach innen wachsen!

Was wir für die Zukunft des Wohnens in Land und Stadt aus Corona lernen können

von Roland Gruber und Florian Kluge

In Zeiten der Corona-Pandemie sind Wohnräume mehr denn je ein wichtiger Rückzugs-, Heimat- und Lebensraum der Menschen. Im Idealfall geborgen in der Familie, eingebettet im Kreise der Mitbewohner*innen oder individuell im Single-Haushalt sind sie – insbesondere während des Lockdowns – Mittelpunkt des Lebens und immer häufiger auch des Arbeitens.

Demnach muss es das Ziel aller Stadt- und Kommunalgestalter sein, den Menschen großzügigen, komfortablen und multifunktional nutzbaren Wohnraum zu bieten, um gutes Leben und Arbeiten zu ermöglichen. Aber genau diese Großzügigkeit zwingt – ebenso wie der Trend zum Einpersonenhaushalt, die steigende Wohnfläche pro Kopf und der Zuzug in Ballungszentren – kleinere und größere Städte zu stetem Wachstum. Wachstum, das wertvolle Naturreserven verbraucht und den Klimawandel beschleunigt. Wachstum, das Freiräume frisst und Flächen versiegelt. Wachstum, das Anonymität und Vereinsamung fördert – noch verstärkt durch die Corona-Maßnahmen.

Wenn nicht jetzt, wann dann ist es an der Zeit, über Veränderungen in der Wohnraumschaffung nachzudenken? Wie kann ein Wohnungsbau aussehen, der gleichermaßen gesellschaftlich verantwortlich und ressourcenschonend ist? Wie kann ein gemeinschaftliches Zusammenleben in unseren Städten Einzug halten? Wie können lebenswerte Quartiere anstatt monofunktionaler Wohnghettos entstehen? Und gibt es Lösungen, die im ländlichen Raum ebenso funktionieren wie in der Stadt?

Gemeinschaft mit Mut zur Vielfalt

Um den Herausforderungen der Zukunft zu begegnen, müssen neue Lösungsvorschläge erforscht, alternative Strategien entwickelt und höhere Standards gesetzt werden. Dazu zählt eine bessere Nutzung der bestehenden Bausubstanz genauso wie der sensible Umgang mit Versiegelung und Flächenverbrauch bei Neubauprojekten. Die Kunst besteht darin, gleichzeitig ressourcenschonend zu bauen und Gemeinschaft, Vernetzung und Interaktion zu fördern. Neue Formen für das gemeinschaftliche Wohnen mit Mut zu Vielfalt, Heterogenität und Mischung sind gefragt! Das erfordert interdisziplinäre und partizipative Planungsprozesse: Lieber länger planen, als falsch bauen!

Beispiel Stadt: Fairberlinerhaus – mutig nach innen wachsen

Um neue Standards zu setzen, müssen Pilotprojekte entstehen, die zeigen, dass gemeinschaftliches Wohnen und das Wachsen nach innen echte Alternativen zur Ausweisung neuer Bebauungsflächen sind, die auch im größeren Maßstab für private Investor*innen oder städtische Wohnungsgesellschaften funktionieren.

Für ein solches Projekt hat nonconform in Kooperation mit Dr. Ruth Jacob eine Forschungsförderung der Deutschen Bundesumweltstiftung (dbu) erhalten. Die engagierte Bauherrin will in Berlin Wilmersdorf das Hinterhaus eines städtischen Blocks ergänzen und ein Haus für gemeinschaftliches Zusammenleben umsetzen. Parallel zur Planung eines Architekturbüros entwickelte nonconform eine Strategie, die den Planungsprozess eines Architekturprojekts neu interpretiert und partizipative Formate darin einwebt. Um frühzeitig die Bedürfnisse der zukünftigen, aber noch unbekannten Nutzer*innen einzubeziehen, wurden in analogen und digitalen Workshopformaten mit potenziellen Nutzer*innen neue Grundrisstypologien und Nutzungsmischungen für gemeinschaftliches Wohnen auf reduziertem Raum erforscht und unmittelbar in die Planung eingearbeitet. Das Ergebnis wird im Rahmen eines Online-Symposiums am Donnerstag, 3. Dezember 2020, vorgestellt und mit Fachexpert*innen diskutiert. Weitere Infos und Live-Stream unter: https://www.nonconform.at/de/fairberlinerhaus

Gemeinschaftliches Wohnen und Arbeiten im ländlichen Raum

Auch außerhalb von Ballungszentren gilt es, neue Wohnformen zu realisieren, die passgenau auf die Bedürfnisse von Bewohner*innen im ländlichen Raum reagieren und gleichzeitig flächenschonend sind: Einerseits ausreichend Wohnkomfort durch intelligente Grundrisse, Individualität in der eigenen Wohnung und Bezug zu Grünflächen, andererseits ebenso Räume für gemeinschaftliches Leben, bilden die Grundlage einer Wohnform, die sich zunehmender Beliebtheit erfreut: der Baugemeinschaft. Sie zeigt sich in Zeiten von Corona von ihrer besten Seite: Das gemeinschaftliche Wohnen macht es möglich, auch in Zeiten des Lockdowns enge soziale Kontakte zu pflegen, sich im Alltag mitzuteilen, ohne größere Ansteckungsrisiken einzugehen.

Beispiel Land: B.R.O.T. Pressbaum – ein Dorf des Gemeinsinns

Zehn Holzhäuser und ein zentrales Gemeinschaftshaus schaffen im niederösterreichischen Pressbaum die Grundlage für diese neue Art des Miteinanders. Nach drei Jahren Planung und einer Bauzeit von zwölf Monaten bezogen die Mitglieder der Gemeinschaft ihr neues Zuhause. B.R.O.T. steht für Begegnen, Reden, Offensein und Teilen und signalisiert den zentralen Community-Gedanken. Dieser lag auch dem partizipativen Planungsprozess zugrunde, in dessen Verlauf nonconform mit den Bewohner*innen eine Vision vom „Zusammenleben aller Generationen in ökologischen Häusern – Teilen als Zukunft“ für das Wohnen und Leben am Land entwickelte und umsetzte.

Die Bewohner*innen initiierten schon zu Beginn der Pandemie ein Gesundheitsteam, um innerhalb der Baugruppe den Umgang mit Corona-Maßnahmen zu regeln. „Bei uns leben auch alleinstehende Menschen. Darum gibt es in dieser Zeit das Angebot eines offenen digitalen Begegnungsraums, der die Situation für alle Bewohner*innen verbessert”, berichtet Johanna Leutgöb, Mitbegründerin der Baugruppe. Viele Maßnahmen der Gemeinschaft greifen ineinander: Der Austausch in Sachen Home Schooling und Kinderbetreuung ist wesentlich einfacher, da sich die Kinder ja durch die gemeinsame Schule gut kennen. Dazu kommen die Nutzung des Gemeinschaftshauses als Co-Working-Space, in dem Eltern konzentriert arbeiten können sowie die gegenseitige Unterstützung beim Einkauf und die kurzen Wege zur gemeinsamen FoodCoop.  Auch auf übergeordneter Ebene nutzt man das Netzwerk: Über die Initiative „Gemeinsam Bauen & Wohnen“ findet Austausch mit anderen Baugemeinschaften statt.

Behutsames Innenwachstum für Land und Stadt als neue Normalität

Anhand der durchgeführten Projekte zeigt sich, dass unabhängig von der Lage, der zugrundliegenden Fläche oder der Art des Zusammenlebens großes Potenzial in der Gemeinschaft als Wohnmodell für die Zukunft liegt. Auch das Teilen von Arbeitsräumen wird nach dem durch die Pandemie bedingten Schub für das Home Office einen neuen Stellenwert erhalten. Gemeinschaftliches Bauen, Wohnen und Arbeiten kann eine Antwort auf die Frage nach flächenschonendem, klimaverträglicherem Wohnbau sein.

Besonderes in Zeiten wie diesen, in denen Corona-Maßnahmen die Vereinsamung nochmals verstärken, kann das Leben in Gemeinschaft einen wichtigen Beitrag zum Wohlbefinden der Menschen leisten und zur „neue Normalität“ im Wohnbau werden.

Autoren

Mag. arch. Roland Gruber, MBA, MAS
Roland Gruber studierte Architektur und Kulturmanagement, ist Gründer, Gesellschafter und Geschäftsführer von nonconform. Der Schwerpunkt liegt in der partizipativen Raumentwicklung für Kommunen, Schulen und Unternehmen. Er kuratiert die nonconform Leerstandskonferenz, lehrt an der nonconform akademie und versucht das Beste aus Land und Stadt zu verknüpfen.

Prof. Dr.-Ing. Florian Kluge
Florian Kluge, Landschaftsarchitekt, ist Gesellschafter von nonconform. Als Spezialist für kreative Beteiligungsprozesse leitet er die Aachener Dependance des Büros. Kluge ist zudem Professor für Projektmanagement und leitet das Institut für Prozessarchitektur an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn.

Weitere Informationen unter: www.nonconform.at