Hilfswerk: Bildungschancen-Lotterie beenden!
Das Hilfswerk Österreich analysiert die Rahmenbedingungen der Elementarpädagogik in Österreich und zeigt massive Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten auf.
Kinder brauchen Spielraum für ihre Entwicklung und Entfaltung. Spielraum im wahrsten Sinne des Wortes, als räumliche und zeitliche Gelegenheiten, um ihrem Bedürfnis nach Spielen nachkommen zu können. Einrichtungen und Angebote zur Kinderbetreuung im Elementarbereich – wie Krabbelstuben, Kindergärten und Tageseltern – sind dabei ein entscheidender Faktor. Denn diese elementarpädagogischen Angebote tragen nicht nur maßgeblich zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei. Sie sind vor allem auch DIE erste Bildungseinrichtung für unsere Kinder. Allerdings: Welche Betreuungs- und damit Bildungsmöglichkeiten vor Eintritt in die Volksschule zur Verfügung stehen, hängt oft von der Heimatgemeinde ab.
MEP Dr. Othmar Karas, Präsident des Hilfswerk Österreich: „Das derzeitige österreichische elementarpädagogische System steckt in einer Sackgasse: Wir leben mit willkürlichen und ungerechten Unterschieden, die keiner erklären kann. Aktuell ist es vom Wohnort abhängig, welche Möglichkeiten und Angebote Eltern für die Betreuung und Bildung von Kindern vor der Schule vorfinden. So wird frühe Bildung in Österreich zur wohnortabhängigen Bildungschancen-Lotterie!“
Langfristiges und nachhaltiges Finanzierungskonzept notwendig
Aktuell fördert das österreichische Finanzierungssystem in der Elementarpädagogik einen Fleckerlteppich, und nicht ein gleichwertiges Angebot in allen österreichischen Gemeinden! So ist schon die aktuelle Anzahl institutioneller Kindergruppen pro 1.000 Kinder (unter 3 bzw. 3 bis 6 Jahre) in den einzelnen Bundesländern höchst unterschiedlich. Die Spannweite reicht z. B. bei den 3 bis 6-Jährigen von 29,6 Gruppen in Wien bis zu 63,3 Gruppen in Niederösterreich (siehe Grafik).
Laut Regierungsprogramm ist eine neue Bund-Länder-Vereinbarung (15a) zu elementarpädagogischen Einrichtungen geplant. Aus Sicht des Hilfswerks waren und sind 15a-Vereinbarungen als Anschubfinanzierung wichtig. Um eine Planungs- und Versorgungssicherheit kurz- und mittelfristig sicherzustellen, ist es auch sinnvoll, die auslaufenden 15a-Vereinbarungen zu verlängern. „Langfristig aber brauchen wir eine grundlegende Reform samt nachhaltigem Finanzierungs-konzept, um eine flächendeckend fair gestaltete Versorgung durch elementarpädagogische Einrichtungen zu garantieren“, so Karas.
Derzeit sind 38 Prozent der österreichischen Kommunen Abgangsgemeinden – also Gemeinden, die ohne Landesmittel ihren Haushalt nicht mehr ausgleichen können. Ein Ausbau der Kleinkindbetreuung ist drt kaum möglich, was wiederum die Attraktivität des Wohnorts senkt. Ein Teufelskreis! „Nur adäquate Bildungschancen vor Ort und zeitgemäße Kinderbetreuungsangebote können die Landflucht eindämmen. Die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen, damit auch finanz- und strukturschwache Kommunen und die dort lebenden Familien von der Weiterentwicklung des Bildungssystems profitieren“, betont Karas.
Ausbau der Kinderbetreuung bringt Win-Win-Situation
Laut einer in der vergangenen Woche veröffentlichten Studie des Österreichischen Instituts für Familienforschung lohnt sich das Investment in den Ausbau der Kinderbetreuung für unseren Staat bereits jetzt. Alleine der seit 2006 erfolgte Ausbau (Barcelona-Ziel, erste 15a Vereinbarung) macht sich durch eine höhere Frauenerwerbsquote mit zahlreichen Folgewirkungen auf den Staatshaus-halt bemerkbar. Die Mehreinnahmen (Konsumsteuern, Unternehmenssteuern, Lohnsteuern, VS-Beiträge und Lohnnebenkosten) im Ausmaß von insgesamt 1.342,6 Mio. Euro im Zeitraum 2005 bis 2016 übertreffen die zusätzlichen Kosten von 1.288,7 Mio. Euro bereits um 53,9 Mio. Euro (siehe Grafik).
Bedürfnisse von Kindern richten sich nicht nach Bundesländergrenzen!
Betrachtet man heute Angebot und Qualität von Kinderbetreuungseinrichtungen in ganz Österreich, fallen große regionale Unterschiede auf. Derzeit gelten in jedem Bundesland unterschiedliche Standards, etwa was die Fläche pro Kleinkind in Betreuungseinrichtungen betrifft. So müssen die Gruppenräume für Krabbelstuben jedem Kind eine Fläche von mindestens 2 m² im Burgenland bieten – in der Steiermark sind es 8 m² (siehe Grafik).
Ähnlich markant sind die Unterschiede bei der Mindestqualifikation der Kindergartenhelfer/innen und der Assistentinnen bzw. Assistenten in den Kinderbetreuungseinrichtungen für unter Dreijährige: Während diese in der Steiermark 475 Übungseinheiten absolviert haben müssen, sind es im Burgenland 200 Einheiten. In Niederösterreich, Salzburg, Vorarlberg und Wien gibt es gar keine Mindestqualifikation als Voraussetzung für die Tätigkeit (siehe Grafik).
Pädagogische und strukturelle Vielfalt auf Basis einheitlicher Standards
Die Elementarpädagogik in Österreich wird derzeit von den vielfältigen Ausformungen des Föderalismus geprägt. Unsere Kinder brauchen jedoch eine auf gleichen Standards beruhende Vielfalt des Angebots. Aus gutem Grund haben wir schließlich auch einheitliche Standards in den Volksschulen, Neuen Mittelschulen, Gymnasien und allen anderen in Österreich verfügbaren Schulen. Um besser auf regionale und spezifische Besonderheiten vor Ort reagieren zu können, setzen wir auf Schulautonomie. Für den Elementarbereich müssen nun ebenfalls einheitliche, bundesländerübergreifende Mindeststandards geschaffen werden. Gleichzeitig braucht es ein vielfältiges Angebot, sowohl in pädagogischer Hinsicht (Vielfalt der Ansätze), als auch strukturell (Vielfalt der Träger). Nur so finden unterschiedliche Bedürfnisse auch tatsächlich Berücksichtigung.
„Eine qualitative Elementarpädagogik für alle Kinder in Österreich erfordert einen nationalen Kraftakt, der Vielfalt auf Basis fairer Grundlagen und Standards sicherstellt! Vielfalt soll konsequent dort gefördert werden, wo sie der bestmöglichen Entwicklung der Kinder, nicht aber einem falsch verstandenen Föderalismus dient. Nur so kann die Politik langfristig garantieren, dass alle Kinder unabhängig vom Wohnort eine faire Bildungschance erhalten“, so Othmar Karas.
Mehr Spielraum für Kinder!
Hilfswerk Österreich bricht eine Lanze für freies Spiel
„Spielen. Lernen. Bilden.“ So lautet der aktuelle Fachschwerpunkt des Hilfswerk Österreich. Als einer der großen privaten Träger für Kinderbetreuung in Österreich mit gesellschaftlich relevantem Bildungsauftrag ist das Hilfswerk seit 40 Jahren Betreuungs- und Erziehungspartner für Familien.
Martina Genser-Medlitsch, fachliche Leitung des Bereichs Kinder, Jugend, Familie und psychosoziale Dienste beim Hilfswerk, berichtet aus der Praxis: „Wir beobachten bei Kindern immer öfter, dass sie zu wenig Zeit und Raum haben, um einfach selbstbestimmt und frei zu spielen. Manche Kinder kennen das Gefühl der Langeweile nicht mehr, sind unausgeglichen, unkonzentriert, unsicher in ihrer Körperwahrnehmung und Selbsteinschätzung. Mögliche Anzeichen dafür, dass es Eltern – in bester Absicht – zu gut meinen und ihr Kind mit einer ‚Überförderung’ überfordern.“
Das Hilfswerk bricht daher eine Lanze für das ungezwungene, freie Spielen der Kinder. „Für die Erwachsenen heißt das, sich in achtsamer Gelassenheit auch einmal zurückzulehnen und Vertrauen in die Potenziale der Kinder zu haben. Das erfordert Mut bei Eltern und Erziehenden“, so Martina Genser-Medlitsch.
Ausgeglichene Kinder spielen
Wir wissen heute, dass das kindliche Spiel von zentraler Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung ist. Wissenschafter, Pädagogen und Experten sehen im Spiel die Basis und den wichtigsten Antrieb für lebenslanges Lernen. Im Spiel lernen Kinder nebenbei, mit Freude und auf verschiedenen Ebenen: Bei Kindern, die während ihres Heranwachsens viel und intensiv spielen konnten, gelang der Spielforschung der Nachweis eines erhöhten Kompetenzaufbaues in ihrer emotionalen, sozialen, motorischen und kognitiven Entwicklung. Gleichzeitig können sich Kinder im Spiel vom Alltag erholen oder einschneidende Erlebnisse verarbeiten.
Mag. Matthias Huber vom Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien plädiert dafür, dem Spiel der Kinder mehr Raum zu geben, und sich selbst die Zeit zu nehmen, das Kind im Spiel zu beobachten: „Spielen gibt Auskunft über die Innenwelt des Kindes, über seine Bedürfnisse und Entwicklungsschritte. Das spielerische Erkunden der Welt ist für die Entwicklung des Menschen schon immer von enormer Bedeutung gewesen.“
Auch die Schauspielerin, Intendantin und Mutter Kristina Sprenger kennt das Potenzial freien Spiels aus eigenen Erfahrungen mit ihrer Tochter. „Auch wenn es mitunter schwierig ist, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, achten wir darauf, gemeinsame Zeit im familiären Rahmen bewusst zu nutzen. Spielen bedeutet, mich auf mein Kind voll und ganz einzulassen. Alles andere ist in diesem Moment unwichtig. Ähnlich anspruchsvoll bin ich natürlich auch bei der Auswahl der Kinderbetreuungseinrichtung für meine Tochter gewesen. Sie sollte eine schöne, spielerische Zeit haben, die sie als Einzelkind mit anderen Kindern gemeinsam verbringt und wo auch ein voneinander Lernen möglich sein soll.“ Doch nicht nur die pädagogische Qualität war wichtig, sondern auch die Verfügbar¬keit selbiger. „Der Schauspielberuf ist ohne attraktive Öffnungszeiten der Kinderbetreuungseinrichtung mit einem Kind nicht vereinbar. Derartige Betreuungsangebote sind für mich der Schlüsselfaktor, dass Frauen berufstätig sein können. Alles andere halte ich für weltfremd“, so Sprenger.